Die Stadt des toten Dichters

Stratford upon Avon lebt von und mit William Shakespeare

Es ist neun Uhr, ein dunstiger Sommermorgen in Stratford upon Avon. Der träge dahin ziehende Fluss stürzt leise rauschend ein flaches Wehr herunter. Durch die Äste der betagten Linden rund um die Holy Trinity Church huscht ein graues Eichhörnchen. Unter den uralten Eiben, die verwitterte Grabsteine aus vergangenen Jahrhunderten beschatten, sucht eine Drossel nach Würmern. Auf dem kurz geschorenen Rasen glitzern noch Tautropfen.

Die Stimme des Predigers tönt aus dem großen Portal der hellen Sandsteinkirche. Er hält die Morgenandacht im Seitenschiff vor leerem Gestühl. Zuhören tut nicht einmal die alte Frau, die Staub wischt und Blumen in Vasen arrangiert. Taub für die Gebete sind offenbar auch der Verkäufer am Andenken-Kiosk und der Herr an der Kasse, die das unentgeltlich zu besuchende Hauptschiff des anglikanischen Gotteshauses vom Allerheiligsten trennt – dem Chorraum, in dem William Shakespeare nebst Gattin Anne bestattet ist.

Bald wird sich die Kirche mit Touristen aus aller Herren Länder füllen, die die Büste des Dichters unter den hohen Spitzbogenfenstern fotografieren wollen. Die seinen Namen suchen möchten, der in verschnörkelter Schrift im Taufregister von 1564 und im Sterberegister von 1616 zu finden ist – Kopien beider Seiten sind unter Glas ausgestellt. Auch das steinerne Taufbecken, über dessen Rand einst das Köpfchen des größten Sohnes der Stadt gehalten wurde, Kind eines Handschuhmachers, wird jährlich voller Ehrfurcht von Zigtausenden bestaunt.

Stratford, im County Warwickshire rund 110 Meilen nordwestlich von London gelegen, ist nicht denkbar ohne Shakespeare. Der Mann, über dessen genau 52 Jahre währendes Leben nur sehr wenig bekannt ist – das weitaus meiste des über ihn Verbreiteten basiert lediglich auf Spekulationen – bildet die Lebensgrundlage vieler der 23000 Einwohner der mittelenglischen Kleinstadt. Sie lebt von den Theatern, auf deren Bühnen nahezu täglich eines seiner 36 überlieferten Dramen und Komödien aufgeführt wird.

„Der widerspenstigen Zähmung“ etwa ist trotz der in heutiger Zeit mehr als fragwürdigen Aussage – Wille und Selbstbewusstsein einer starken Frau werden mit Gewalt gebrochen – so lebendig, voller Witz und Enthusiasmus inszeniert, dass Shakespeare, der selbst Schauspieler war, seine helle Freude daran hätte. Ein Besuch lohnt auch für der Sprache nicht mächtige. Jedes Wort der altenglischen Originaltexte und die vielen ironischen Anspielungen auf vor 400 Jahren aktuelle Geschehnisse versteht ohnehin kaum jemand, auch die Einheimischen nicht. Dem Spaß und der Faszination tut das keinen Abbruch. Gerade werden 112 Millionen Pfund in die Renovierung des Haupthauses der Royal Shakespeare Company und des Swan-Theaters investiert. Die Aufführungen finden bis zur Fertigstellung 2010  ersatzweise im Courtyard-Theater statt.

In Shakespeares Geburtshaus in der Henley Street steht man buchstäblich an der Wiege der Literaturgeschichte. Mindestens ebenso anrührend wie der Anblick des ersten Bettchens des Meisters der Poesie ist derjenige der alten Fensterflügel mit den völlig zerkratzen bleigefassten Scheiben, die inzwischen ihrerseits Ausstellungsstücke sind. Denn schon seit 1806 hatten begeisterte Besucher mit Nägeln und Messern Namen und Daten ins Glas graviert. Grafitti ist eben keine Erfindung der Neuzeit. An den Besucherzahlen des Geburtshauses ist die Entwicklung der Shakespeare-Manie gut abzulesen. Kamen im frühen 19. Jahrhundert jährlich rund 700 Schaulustige, steigerte sich die Zahl um 1850 auf 2500. Hundert Jahre später waren es bereits 150000, heute schieben sich pro anno eine halbe Million Menschen durch die niedrigen Räume und den blumengeschmückten Garten.

Der Schaden, den Francis Gastrell der Stadt zufügte, ist somit gar nicht zu beziffern. Der Pastor war der letzte Besitzer von „New Place“, jenes Domizils gegenüber dem historischen Hotel „Falcon“, das der Dichter 1597 erwarb und in dem er starb. Der Legende nach soll Gastrell aus Wut über frühe Shakespeare-Fans, die permanent in die Fenster seines Sommerdomizils gafften, den von Poetenhand gepflanzten Maulbeerbaum im Garten gefällt haben. Worauf der empörte Mob ihm die Scheiben einwarf und Gastrell entnervt, aus Rache und möglicherweise auch, um Steuern zu sparen, 1759 das Haus abreißen ließ. Wie auch immer: Von New Place sind nur ein paar kümmerliche Fundamentreste erhalten. Zu besichtigen ist aber der Garten und das Nebengebäude, Nash’s House, wo Shakespeares Enkelin Elizabeth lebte, unglücklich verheiratet mit Thomas Nash, einem Weiberhelden und Trunkenbold. Im Obergeschoss ist eine Dokumentation von William Shakespeares Schaffen zu sehen.

Weitaus mehr Romantik verbreitet Anne Hathaway’s Cottage. Anne, acht Jahre älter als William, wuchs in ärmlichen Verhältnissen in einer Kate im Weiler Shottery unweit Stratfords auf. Über die Qualität der Ehe des ungleichen Paares, aus der drei Kinder hervorgingen, wird viel spekuliert. Sicher ist, dass Shakespeare, der viele Jahre am Theater in London gelebt und gearbeitet hatte, die letzen Lebensjahre an der Seite seiner Frau verbrachte und schon zu Lebzeiten mit seinem Geld dazu beitrug, dass das Anwesen der Hathaways zu einer Schaftzucht-Farm beachtlicher Größe erweitert werden konnte. Die letzte Besitzerin, Mary Hathaway-Baker aus der 13. Generation der Dynastie starb 1899 in dem pittoresken, mit Weizenstroh gedeckten Häuschen.

Heute ist das Anwesen ein Museum. Gut gelaunte Führerinnen erzählen Erstaunliches. Etwa dass früher lebendige Hühner vom Dachfirst aus in die Schornsteine geworfen wurden, um mittels der panisch flatternden Vögel die Kamine vom Ruß zu säubern. Und dass die Bank vor der Feuerstelle im Wohnraum, auf der angeblich einst der kaum 18-jährige William mit der reifen Anne turtelte, deshalb so demoliert wirke, weil immer wieder Reliquienjäger daran geschnitzt hätten, um ein Stück der durch den Hosenboden des Dramatikers geheiligten Sitzfläche zu besitzen.

Diese Anekdote glaubt sofort, wer den urigen Pub schräg gegenüber vom Swan-Theater betritt, wo sich nach den Aufführungen traditionsgemäß die Künstler zu Apfelwein oder Bier treffen, wie zahlreiche handsignierte Schauspieler-Fotografien beweisen. In Englands einziger Kneipe, die gleich zwei Namen besitzt, nämlich den offiziellen „Black Swan“ – schwarzer Schwan – und den volkstümlichen „Dirty Duck“ – schmutzige Ente – hängt neben der Tür ein Bilderrahmen. Neben dem Konterfei des Stratforder Geistesgiganten ist ein winziger Holzspan zu sehen. „72. von 300 Splittern von Shakespeares Bett“ steht darüber.

Ist das jetzt feiner englischer Humor oder Stratforder Ernst?

In dieser Stadt ist jedenfalls beides möglich.

Anreise mit dem Flugzeug nach London und von dort aus mit dem Zug.

Bequemer geht es mit dem Auto per Fähre. Die Stena-Line verkehrt täglich über Nacht zwischen Hoek von Holland und Harwich.

Ein Aufenthalt in Stratford gehört auch zur 13-tägigen Wales-Rundreise, die Stena mit eigenem Auto oder Motorrad anbietet. Infos unter www.stenaLine.de

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