Mit dem Wohnwagengespann kreuz und quer durch Suffolk und Norfolk.
Eine Begegnung mit blühenden Heidelandschaften, langen Sandstränden,
seltenen Tieren und netten Menschen
Die Zigeunerin versenkt ihren Blick tief in meine Augen – und in ihre Kristallkugel. Dann prophezeit sie mir eine glückliche Begegnung. Wir haben unseren modernen Campingwagen nebenan geparkt und sitzen nun in ihrem mit grüner Seide überspannten goldenen Karren auf einer Wiese in Norfolk weit ab von jedem Jahrmarktrummel. „True fortune teller“ wirbt ein Schild am Rande der holprigen Küstenstraße irgendwo zwischen den Ortschaften Cley-next-the-sea und Weybourne.
Nur ein paar Kilometer weiter, an „Blakeney Point“, erlebe ich ein paar Stunden später tatsächlich ein Zusammentreffen besonderer Art. Beim Baden am nördlichsten Punkt Norfolks werde ich von drei Robben umkreist, die mich unverwandt mit ihren schwarzen Knopfaugen fixieren. Eben noch habe ich selbst vom Boot aus fasziniert eine Kolonie hunderter träge am Strand liegender Seehunde beobachtet. Jetzt sind die Rollen zwischen Tier und Mensch vertauscht – das Trio inspiziert mich ohne Scheu mit großer Neugier.
Kreuz und quer habe ich Suffolk und Norfolk mit dem Wohnwagengespann, per Rad und zu Fuß durchstreift, dabei größere Städte und Hauptverkehrsrouten gemieden und ein bezauberndes und wundersames Land erlebt. Die Männer, die in Suffolk im „Ship Inn“, dem letzten Pub von Dunwich sitzen, behaupten, dass von den Klippen aus noch der Klang der Glocken der längst im Meer versunkenen Kirche zu hören ist. Die See hat im Laufe der Jahrhunderte den einst blühenden Ort verschluckt. Noch stehen zwischen Dunwichs Heide und der bröckelnden Steilküste die Überreste eines Franziskanerklosters. Doch es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass auch sie bald ein Opfer der unbarmherzigen Brandung werden. Was die See hier wegreißt, wird weiter südlich wieder angeschwemmt.
Idyllische Orte, gepflegte Häuser, einsame Buchten, Sandbänke,
auf denen sich Seehunde tummeln – alte Traditionen und
Naturschutz stehen hier hoch im Kurs
In Orford bezeugt noch eine Burgruine die Bedeutung dieses ehemals großen Hafens. Heute sind die Kais nahezu komplett versandet. Aldeburgh, zur Zeit König Heinrichs des VIII. ein florierender Handelshafen, ist heute ein ruhiges, überaus pittoreskes Küstenstädtchen. Am Strand bieten die Fischer ihren Fang feil, im winzigen ehemaligen Rathaus informiert ein Museum über die wechselvolle Ortsgeschichte. Bezaubernd und auch bei Engländern äußerst beliebt ist Southwold mit seinem weißen Leuchtturm mitten im Ort. Wer auf originelle Weise etwas über die Vergangenheit des Suffolker Seebads erfahren möchte, sollte den skurrilen „Sailors’s reading room“ aufsuchen. Der öffentliche Lesesaal ist eine Art Museum mit geblümten Ohrensesseln und von Zeitungen überladenen Tischen, mit Galionsfiguren, alten Fotografien von Seeleuten und Sturmfluten sowie Schiffsmodellen in Vitrinen. Eine viktorianische Kapitänswitwe soll das Backsteinhaus anno 1864 in der Hoffnung gestiftet haben, dass die Fischer künftig mehr lesen und weniger trinken würden.
Fangfrischen Fisch gibt es auch heute noch in den verwitterten Hütten am Ufer des River Blyth. Eine Ruderbootfähre verbindet den Hafen von Southwold mit dem romantischen Walberswick am anderen Ufer. Für 80 Pence pro Person kann man sich täglich bei jedem Wetter ins winzige Fischerdorf, das Ende des 19. Jahrhunderts eine blühende Künstlerkolonie war, übersetzen lassen. Southwolds Strand säumen bonbonfarbene Badehäuser und ein restaurierter viktorianischer Pier. Eine Seebrücke gibt es in Ostengland sonst nur noch in Hunstanton, einem viktorianischen Badeort an Norfolks Nordküste. An Hunstantons moderner Mole wird in riesigen Spielhallen Bingo gespielt und an „Einarmigen Banditen“ gezockt. Das nostalgischeFlair des Ortes mit den ehemals hochherrschaftlichen Backsteinvillen an der Küstenstraße geht durch den Massenbetrieb leider weitgehend verloren.
Der Export von Salz, Getreide, Wolle und Tuch, das in den Webereien
der Gegend produziert wurde, machte diesen Landstrich reich
Imposant und sehenswert ist aber die Steilküste, die sich östlich von Hunstanton dreifarbig in Rostrot, Ockergelb und Schneeweiß nahezu senkrecht aus dem Meer erhebt. Der Sandstrand und das flache Ufer sind bei Familien beliebt. Etwas museal und unbelebt wirkt der historische Stadtkern von King’s Lynn. Im Mittelalter war die Stadt an der Mündung der Great Ouse in den Wash eine von vier Niederlassungen der Hanse in Großbritannien. Importiert wurden Luxusartikel wie Wein aus der Gascogne, Pelze aus Sibirien, flämische und italienische Gewänder. Exportiert wurden vor allem Salz, Getreide, Wolle und Tuch. Wie reich die Tuchhandelsstädte und Weberdörfer einst waren, beweisen nicht nur überall im Land die riesengroßen Kirchen, sondern auch die Fachwerkhäuser, die in besonders verschwenderischer Fülle in Lavenham in Suffolk zu besichtigen sind. Bedauerlich, dass der Marktplatz mit der prächtigen um 1520 erbauten „Guildhall“, dem Gildehaus, von parkenden Autos zugestellt ist. Nicht so der grüne, von Bäumen beschattete Anger im nahe gelegenen Cavendish. Auch Clare ist eines der charmanten alten Weberdörfer mit einer Burgruine am Ortsrand.
Weitaus gewaltiger ist die Festung von Castle Acre in Norfolk. Da der heute winzige Weiler bei Swaffham außer der mächtigen Burganlage auch eine gewaltige Klosterruine und malerische, nahezu ausschließlich aus Feuerstein erbaute Häuser aufzuweisen hat, wurde das Dorf komplett unter Denkmalsschutz gestellt. Historische Wege, Gebäude, Kultur und Natur – in England wird all dies liebevoll bewahrt. Meist mit beträchtlichem persönlichen und finanziellen Aufwand privater Vereine und ehrenamtlicher Helfer.Die Engländer lieben ihre gepflegten Parks mit blühenden Beeten, penibel gestutzten Hecken und Rasenflächen. In Blickling Hall bei Aylsham nördlich von Norwich werden eigens Fahrräder vermietet, damit die Besucher die mit uralten Bäumen bestandenen Ländereien rund um das Schloss erkunden können.
Die Broads nordwestlich von Norwich sind eine Landschaft, die am besten vom Wasser aus zu erkunden ist – ein 200 Kilometer langes Netz schiffbarer Wasserstraßen. Überall sind hier Boote zu mieten. Weiße Motorboote und Segel scheinen an Windmühlen vorbei durch die Wiesen zu gleiten. Flüsse, Kanäle und Seen – mit Wasser gefüllte Torfstiche aus dem Mittelalter – bilden heute ein Naturschutzgebiet. Ausbeutung der Natur in früheren Jahrhunderten schuf auch die Brecklands bei Thetford. Durch Überweidung war hier einst eine von Sandstürmen heimgesuchte Wüste entstanden, heute erstreckt sich dort Englands größtes Waldgebiet, nur stellenweise hat man die karge Heidelandschaft erhalten.
Schon bald nach der Blüte des Mittelalters versank Ostengland im Dornröschenschlaf. Die industrielle Revolution ist an dieser Region vorüber gegangen und lange Zeit auch der Tourismus. Die Gegend ist nach wie vor der Inbegriff britischer „Countryside“, und damit ein Geheimtipp für Romantiker und Individualisten, für Naturliebhaber, Historienfans und Kulturbegeisterte.
Ich habe die abwechslungsreiche Landschaft mit lieblichen Flussauen und sanften Hügeln in vollen Zügen genossen. Die sandigen Heiden, saftigen Marschen, kargen Moore, dichten Wälder, wogenden Kornfelder und von hohen Hecken gesäumten Wiesen. Ich war fasziniert von den Küsten, an denen flache Kieselstrände und schroffe Steilufer wechseln, von den langen einsamen Sandstränden zwischen Cromer und Great Yarmouth. Ich habe mein Haar im warmen Sommerwind flattern lassen und andächtig den Geräuschen der von Prielen durchschnittenen und durch vorgelagerte Dünengürtel und Strandwälle geschützten amphibischen Landschaft im Norden gelauscht. Bei Ebbe ist das Knistern der Wattwürmer und das Jubilieren der Lerchen über endloser, von Queller und Strandflieder bewachsener Weite zu hören. Ich habe mich natürlich ebenso über die überaus offenen, aufmerksamen, freundlichen, zuvorkommenden und hilfsbereiten Menschen gefreut.
Jetzt weiß ich: Die Wahrsagerin hat Recht behalten. Ich hatte eine Begegnung, die mich glücklich macht. Ein geradezu intimes Treffen mit Ostengland
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